Wie weit muß man ausholen, um ein Ereignis zu verstehen, das dem eigenen Leben eine neue Richtung gegeben hat? Ich spreche von einer zufälligen Begegnung mit meinem ehemaligen Berufsschullehrer und – direktor im Jahre 1949. Ich habe von ihr mehrfach erzählt, um die Zufälligkeit auszudrücken, von der mein Bildungsweg bestimmt worden ist. In der Erinnerung aller Zusammenhänge fällt mein Urteil vorsichtiger aus. Doch bleibt unverrückt als Tatsache bestehen, daß auf andere Weise weder der Berufsschuldirektor Kober zu dem Entschluß gekommen wäre,mich zum gerade neu zu gründenden Braunschweig-Kolleg vorzuschlagen, noch ich, mich dort zu bewerben.
Die Begegnung selbst hat sich mir in allen Einzelheiten eingeprägt. Gefilmt, hätte sie vor allem die sie begleitende unfreiwillige Komik gezeigt und festgehalten. Mir war eingeredet worden, daß ich als Neunzehnjähriger, der gerade seinen ersten Anzug bekommen hatte, auch eine männliche Kopfbedeckung brauchte, die ihn in der Öffentlichkeit als gesitteten Bürger auswies. Nur deutlich zur Arbeiterklasse sich bekennende Männer trugen eine Mütze. Sonst „trug man Hut“, jedenfalls bei unsicherer Wetterlage. Ich stellte bald fest, daß der richtige Umgang mit dem Hut einige Übung brauchte; denn beim Grüßen mußte er „gelüftet“ oder in unterschiedlichen Varianten gezogen werden, was von dem bloßen Antippen bis zur weit geschwungenen ehrfurchtsvollen Gestik reichte. Gott sei Dank habe ich sehr bald den Hut irgendwo, vielleicht in der Bahn, liegen gelassen..
An einem trüben Nachmittag im Spätsommer 1949 war ich also auf dem Weg von meiner Bäckerei zu meiner Mutter unterwegs, unter einem Arm eine Aktentasche, im anderen ein Brot. Ich war in der Rosenstorstraße gerade vor der Karstadt-Filiale, da kam mir Herr Kober entgegen. Ich sah ihn sehr spät und wollte hastig den Hut ziehen. Ich weiß nicht, wie es kam: beim Versuch, eine Hand zum Hut ziehen frei zu bekommen, fiel die Tasche herunter. Soweit die Szene, wie sie mir im Gedächtnis geblieben ist. Beim Aufheben der Tasche merkte ich, daß Herr Kober sich umdrehte, zusah und plötzlich zu mir sagte: „Hans, ich habe was für dich.“ Ich ging zu ihm. Und er sagte in bestimmendem Ton: „In Braunschweig wird ein Institut gegründet, wo du das Abitur machen kannst. Die Anmeldefrist ist schon verstrichen. Aber du gehst jetzt nach Hause und bringst mir in spätestens einer Stunde einen handgeschriebenen Lebenslauf. Ich bin in der Berufsschule.
“Im Blumenweg 17 war gerade mein älterer Bruder Rudi bei meiner Mutter. Ich konnte nur kurz berichten, weil auch für mich fast alles unklar war. Mein Bruder wußte, wie man den ersten Satz im Lebenslauf schrieb: „Ich, Johannes-Traugott Greuer, bin am 5. Juni 1930 als Sohn des Volksschullehrers Max Greuer und seiner Ehefrau Gertrud, geb. Ladwig, in Dargislaff, Kreis Greifenberg (Pommern) geboren“. Die weiteren Daten habe ich selbst verfaßt, und mein Bruder hat den Text nachgesehen.
In der Berufsschule war Herr Kober gerade dabei, seiner Sekretärin ein Gutachten über mich zu diktieren, in dem ich wegen der vielen positiven Wertungen mich kaum wiedererkannte.. Er sagte nur: „Das muß sein.“ Die Bewerbung wurde von der Schule abgeschickt, und ich erhielt tatsächlich vom Braunschweig-Kolleg eine Einladung zu einem 14-tägigen „Probelehrgang“, der schon nach wenigen Wochen begann.
Wieso habe ich mich in so kurzer Zeit auf etwas eingelassen, von dem ich nichts wußte ? Sicher mit dem Hintergedanken, immer noch zurücktreten zu können, wenn das eigentlich Unwahrscheinliche einer Aufnahme ins Kolleg eintreten sollte. Wieso kam Herr Kober in diesem Moment gerade auf mich? Er hätte ja auch vorher bei der Lektüre des Schulverwaltungblattes schon an seine ehemaligen Schüler denken können. Was mich betrifft, muß doch wohl die Vorgeschichte hinzugenommen werden, durch die dann die Straßenbegegnung zum Auslöser einer Handlungsabfolge wurde, bei der sehr zweifelhaft bleibt, ob sie durch etwas anderes ersetzt worden wäre.
Schon kurz nach meiner Gesellenprüfung im Frühjahr, jedenfalls nach der Währungsreform, als die allgemeine Versorgungslage sich deutlich besserte und ich immer weniger die Bemerkung hörte,welches Glück ich mit meinem Beruf hatte, dachte ich darüber nach, wie es mit mir weiter gehen sollte. An die 10- bis 12-stündige Arbeitszeit an 6 Wochentagen hatte ich mich gewöhnt, auch an das frühe Aufstehen um 4, oft um 3 Uhr und sonnabends um 2 Uhr. Ich empfand aber meine Arbeit als wenig anspruchsvoll. Der Lohn war halb so hoch wie der eines anderen Handwerkers. Es gab ja bei den Bäckern keine Gewerkschaft. Eine Möglichkeit bestand darin, sich selbständig zu machen,was damals nicht nur durch Einheirat, sondern auch durch Pachtung einer Bäckerei nicht selten gelang. Denn das Bäckereigewerbe blühte, und es gab viele Bäckereien, in Goslar z.B. 22. Ich dachte in eine andere Richtung. Ich hätte noch eine anspruchsvollere Konditorlehre durchlaufen können. Tatsächlich hatte ich schon in zwei Goslarer Konditoreien vorgesprochen, bei der Konditorei Anders im Hohen Weg und im Hotel Schwarzer Adler. Favorisiert wurde aber dann von mir immer mehr der Weg zum Berufsschullehrer nach der Meisterprüfung in einer Berufsakademie. Diesen Zugang zum Lehrerberuf, der dann sehr bald abgeschafft wurde, gab es damals noch.
Schon einmal während meiner Lehrzeit hatte ich mich an die Handwerkskammer gewandt und darum gebeten, nach zwei Jahren Lehrzeit die Gesellenprüfung machen zu dürfen. Ich erlebte ja mit, daß Abiturienten das gestattet war. Und ich machte schon im zweiten Lehrjahr nur noch Gesellenarbeiten, dabei sogar in der herausgehobenen Position des „Teigmachers“. Die Handwerkskammer lehnte ab. Nun fragte ich nach, ob ich wegen meiner Absicht, Berufsschullehrer zu werden, bereits nach drei Gesellenjahren zur Meisterprüfung zugelassen werden könnte. Darauf ging die Kammer ein mit der Bedingung, daß mir der Meisterbrief nicht ausgehändigt werde,sondern nur zur Bewerbung benutzt werden könnte.
Vielleicht müßte ich noch erwähnen, daß ich etwa im Umfeld meiner Familie ganz vage Vorstellungen von anderen Berufsfeldern gewonnen hatte. Meine Großtante, die lange Zeit in Bremerhaven gelebt hatte, schwärmte mir vor, welche Möglichkeiten sich mir böten als Stewart oder Konditor auf einem Ozeandampfer. Und mein Bruder studierte nach harter Arbeit im Bergbau bereits, und ich lernte auch seine Freunde kennen. Wie unterschiedlich durch jeweilige Einflüsse man eine Berufswahl treffen kann, wurde mir während meiner Lehrzeit deutlich, als ein anderer Lehrling mich bewegen wollte, die Lehre abzubrechen, um mit ihm zur Glasfabrik Genthe zugehen, die damals große Spiegel und Linsen für astronomische Geräte herstellte und dringend hitzeerfahrene, d.h. hitzebeständige (das waren Bäcker) Hilfsarbeiter für sehr guten Lohn suchte.Wie er mich nicht, so konnte auch ich ihn nicht überzeugen.
Als Gast nahm ich einmal in der Woche an Teilen eines Vorbereitungskurses für die Meisterprüfung teil, der für ältere Gesellen, meist Söhne von Bäckerei inhabern, abgehalten wurde. Herr Kober verlangte von mir keine Gebühren. Aber ich lernte ihn mehr als in meiner Lehrzeit kennen und er ein wenig auch mich. Es kam manchmal vor, daß wir eine kurze Wegstrecke abends nach dem Kurs gemeinsam zurücklegten. Und da habe ich ihm einmal erzählt, daß ich Goethes „Hermann und Dorothea“ gelesen habe, vielleicht auch, wie es dazu gekommen war. Warum auch immer, vielleicht weil er sich auf ein Gespräch nicht einlassen wollte, sagte er: „Schreib das doch mal bis zur nächsten Woche auf“, was ich dann auch tat.
Hier muß ich einfügen, daß ich an sich keine Literaturkenntnisse hatte. In der Greifenberger Oberschule ab 1940 hatten wir in der siebten Klasse Theodor Storms Pole Poppenspeeler und in der achten Klasse Wilhelm Raabes Schwarze Galeere gelesen. Darüber hinaus habe ich wohl noch drei oder vier Bände Karl May gelesen. Die ganze neunte Klasse, also ab Sommer 1944, hatten wir keine Schule mehr, da wir alle eingesetzt waren zum Schippen des Pommernwalls bei Schlawe und Polzin. Im Winter 1944/45 gab es dann kälte frei und vereinzelt Kriegs-Hilfseinsätze, die von der Hitlerjugend organisiert waren. Ich bin immer ein fauler Schüler gewesen, der sich mit Zensuren zwischen zwei und drei zufrieden gab.
Allerdings, als ich nach meiner Flucht nicht mehr zur Schule gehen konnte, vermißte ich die Schule. Ich nutzte plötzlich die wenige freie Zeit, um an den neuen kulturellen Möglichkeiten teilzuhaben. Es gab z.B. plötzlich Konzerte von hervorragenden Künstlern, die ja in den alten zerbombten Metropolen keine Wirkungsmöglichkeit mehr hatten. In Goslar wurde eine Junge Bühne gegründet,die ganz gute Schauspieler und auch einige Jahre Zulauf hatte. Hier wurde dann das übliche Repertoire gespielt, aber z.B. auch das in ganz Deutschland Furore machende „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert. Das hat auch mich erregt, weil der aus dem Krieg heimkehrende Soldat vielen Erfahrungen sehr nahe kam. Er fand nicht in alte menschliche Beziehungen zurück,suchte seine ehemaligen Vorgesetzten auf, fragte nach ihrer Verantwortung, aber auch nach seiner eigenen. Fast überall stieß er auf verschlossene Türen oder rannte gegen eine Mauer. Das heute oft als unerträglich empfundene Pathos störte einen beim Nacherleben dieses Schicksals nicht.Wolfgang Borcherts Stück und seine Kurzgeschichten wurden später nicht mehr nachgefragt, stießen nur nochmal zur Zeit der Antiatomwaffen-Bewegung auf kurz anhaltendes Interesse.
Ähnlich erging es den Nachkriegsfilmen. Einer von ihnen hat mich damals gepackt, weil ich ihm mit meinen Erlebnissen auf der Flucht sehr nahe kam. Und das hatte Folgen. Der Film heißt: „und finden der einst wir uns wieder (in den Trümmern der Welt“). Was ich nach 70 Jahren noch in Erinnerung habe, das sind die jungen Hitlerjungen, die nach Berlin wollen, um ihren Führer Adolf Hitler zu verteidigen. Sie erleben viel Schlimmes auf dem Weg und nehmen schließlich Abstand von ihrem Vorhaben durch den Einfluß ihres Lehrers. Eine Szene spielt auf einem Schrottplatz. Dort zitiert der Lehrer aus Goethes Hermann und Dorothea die Zeilen “und finden dereinst wir uns wieder über den Trümmern der Welt, so sind wir erneute Geschöpfe“. Mich hat diese Szene so beeindruckt, daß ich mir in einer Buchhandlung ein Reclam-Heftchen von Hermann und Dorothea gekauft habe. Ich weiß noch, wie ich anfangs Mühe hatte, die in das Versmaß des Hexameters gezwängten Satzgefüge zu verstehen, was erst nach einiger Zeit klappte. Mich hat vor allem der Zusammenprall eines Flüchtlingschicksals mit der heilen, sehr auf Besitzstand achtenden Bürgerwelt beeindruckt. Ich erlebte ja die Verhältnisse mit, die sich zwischen Einheimischen und Flüchtlingen oft bildeten bei einem Flüchtlingsanteil in manchen Orten von 30 bis 40 Prozent. Durch eigenes Erleben fand ich den Zugang zur Literatur.
Und Herr Kober, dem ich meine Sicht aufgeschrieben hatte, schien davon angetan, aber diskutierte mit mir darüber nicht. Vielleicht war ihm „Hermann und Dorothea“, so sehe ich es heute, gar nicht präsent. Er gab mir einen neuen Auftrag. Ich sollte mal Lessings „Nathan der Weise“ lesen und aufschreiben, was ich von der Ringparabel halte. Im Laufe der Lektüre und der Vergewisserung,was die Ringparabel sei, habe ich diesen Auftrag ausgeführt. Herr Kober war ein sozialdemokratisch gesinnter Freigeist, und Lessings Thema der Toleranz lag ihm sicher nach dem Krieg nahe. Ich fand wiederum Zugang, indem ich an unsere hinterpommerschen protestantisch christlichen Kreise dachte, in denen oft der Papst, in strenger Luther-Nachfolge, der Antichrist war.Und wie waren die oft hartnäckig durchgefochtenen Gegensätze nach der Flucht plötzlich hinfällig geworden! Wieder wurde also mit diesem Stück mein Erlebnishintergrund aktiviert.
Als ich nach ca. drei Wochen bei Herrn Kober meinen Text abgeliefert hatte, lud er mich ein mal beim Nachhauseweg vom Meisterkurs zu einem Glas Bier ein. Ich erinnere mich nicht mehr an ein Gespräch über Nathan, sondern daran, daß er sich über mich erkundigte, auch was meine Geschwister machten und was ich weiter vorhabe, wenn ich nicht mehr Bäcker sei. Danach gab es eigentlich keine besondere Begegnung mit Herrn Kober – bis eben vielleicht zwei Monate später die geschilderte auf der Straße mit der folgenden Bewerbung zur Aufnahmeprüfung im Braunschweig-Kolleg.
Es gab danach noch einige glücklichen Umstände, durch die rückblickend die Bedeutung dieser Straßenbegegnung für mich weiter zunahm . Ich machte im Braunschweig-Kolleg nicht nur das Abitur und konnte nun in echter freier Wahl meine Studienfächer wählen. Mit vier anderen Kollegiaten bekam ich dann durch ein Stipendium die Möglichkeit, im Leibniz-Kolleg der Universität Tübingen sieben Monate lang ein Studium generale zu absolvieren Und vom Leibniz Kolleg bekam ich dann noch das Angebot, als einer der drei „Adepten“, die den jeweils nachfolgenden Kurs ein Jahr begleiteten, um eine gewisse Kontinuität zu erhalten, kostenlos zu wohnen und mit Vollverpflegung zu leben. Fast vier Jahre mit Einrechnung des Braunschweig Kollegs habe ich also ganz sorgenfrei, nur mich meiner Ausbildung widmend, leben können. Und alles letztlich als Folge einer Straßenbegegnung? Man könnte über meinen Bericht ein Zitat aus Hermann und Dorothea als Motto setzen:
„Der Augenblick nur entscheidet Über das Leben des Menschen und über sein ganzes Geschicke“. (5. Gesang, Vers 57/58).

Chefredakteur.
Abiturient um die Welt zu verbessern und Benz zu brettern.
Als Kollegiat hat sich mein Leben um 180 Grand verändert. Vor noch 4 Jahren hätte ich mir nicht mal träumen lassen, eine akademische Laufbahn anzustreben. Und auch wen man gelegentliche Zweifel an die Zukunft hat, war die Entscheidung zum Kolleg zu gehen die beste meines Lebens. Ich würde mich freuen wenn ich in 60 Jahren genau wie sie einen Brief schreiben kann, der mich an diese Zeit hier zurückerinnert. #HotNathanderWeise