Geschichten einer Alten

Eine Fantasy Kurzgeschichte

 

 

„Lasst mich euch eine Geschichte erzählen“, sagte die alte Aqil, während sie die Kinder des Dorfes um sich versammelte. „In der weit entfernten Stadt Tagur gibt es eine alte Legende: Jedes Kind, das bei Neumond geboren wird, ist zu großem bestimmt. So heißt es. Der erste Schrei jedes Kindes soll durch alle Welten hallen, sodass er Naruna, die Schicksalspinnerin, erreicht.“ Sie nahm einen Schluck aus ihrem Tonkrug und setzte fort: „Es heißt, dass im Schrei eines jeden Kindes, seine Zukunft geschrieben steht. Jede seiner Höhen, jede seiner Tiefen und der erste Atemzug bestimmen welchen Weg sie eines Tages nehmen werden. So besagt die Legende, wer seinem Kind eine klare Zukunft schenken will, soll es noch vor seinem ersten Schrei gen Mond recken, sodass Naruna seinen Schrei klarer als jeden anderen höre.“ Aqil nahm die Puppe eines der Kinder und stand auf. „Nach dieser Legende recken die Mütter ihre Kinder, welche zu Neumond geboren, gen Himmel, in der Hoffnung die Schickalsspinnerin würde auf ihrem weit entfernten Mond, die Stimmen der Kleinen klar hören können.“ Sie reckte die Puppe auf Zehenspitzen so hoch, dass sie mit dem Vollmond fast zu verschmelzen schien. „Es passierte jedoch, dass eines Nachts eine Mutter, so erschöpft und kraftverlassen war, dass ihr Kleines aus ihren Händen glitt und in die Tiefe stürzte.“ Aqil ließ die Puppe aus den Händen gleiten und sie wurde Opfer der lodernen Flammen des wärmenden Feuers. Die Kinder erschraken, doch Aqil setzte unbeeindruckt fort: „Voll Schrecken sah die Mutter mit an, wie ihr liebgewonnenes Kind in den schwarzen Tiefen der Schlucht untertauchte, verschwand und sein erster Schrei, so angsterfüllt und schmerzverzerrt, eben diese Tiefen erfüllte.“ Die Alte umstrich die brennende Puppe wie ein hungriger Wolf. „Es heißt die Tiefen dieser Schlucht waren so endlos, dass Naruna das Kind nicht schreien hörte, aber jemand anders tat es. Jemand dessen Herz erfüllt war, von der tiefen Schwärze dieser Schlucht. Es heißt das Kind erweckte in diesem Moment, zu dieser Stunde, mitten in der Nacht, zu Neumond den Verschlinger.“ Während sie diese Worte sprach, zog sie aus ihrem Gewand eine Maske, so furchteinflößend, dass die Kinder ihre Augen verbargen. „Wo sonst die Schatten das Licht umschlangen wie Würmer, der Boden bebte und die Nacht die kälteste war, in den Tiefen unendlich und schwarz, dort erwachte es.“ Mit ihren Händen gestikulierte sie wilde Schattenspiele, durch ihre schnellen Schritte wirbelte der Sand um das Feuer auf. „Der Schrei des Kindes, mächtig wie das Grollen des Donners, grell wie die Strahlen der Sonne, wand seinen Weg durch die steinernen Wände, des Grabes, des Palastes, des ewigen Käfigs des Verschlingers. Erwacht aus tausendjährigem Schlaf, mit einem Hunger, der die Welt verschlingen wollte, erhob sich der Schatten aus der Grube der Toten. Kalte Leichen und knochige Skelette fielen von seiner grauen Haut, wie die Decke vom Leib eines Menschen.“ Sie durchbrach den Schleier aus Ruß und Staub und trat aus dem Wirbel hervor, wie ein stolzer Löwe. „Gebettet war es hier, im Herzen der Erde, tief unter dem Trubel des Lebens. Unterworfen war es, gekettet an den Tod, in ewiger Dunkelheit verdammt, bis heute das Kind es erweckte.“ Sie stürmte im Kreis an den Kindern vorbei, während ihr Stimme bebte: „Tausend Arme erstreckten sich, dürsteten danach das Leben zu greifen. Krallen so scharf wie die Klingen eines Kriegers, schnitten durch den Stein, das Stahl und die Zeichen. Faulend und hungrig erhob es sich, zog sich heraus aus den Schatten und der Verdammnis, mit dem Tod als seinen Reiter. Befreit von Bannung, befreit von Last, durch den Schrei eines Neugeborenen an Neumond, dargebracht, wie ein Mahl auf feinstem Silber. Und es sogen seine Kiemen, seine Nüstern die staubige Luft seines Grabes ein.“ Symbolisch sog sie ebenso tief ein, ihre Hände weit von sich gestreckt. „Mühsam griffen die vielen Arme, Hände, Krallen, Beine und Scheren nach Halt. Die Trümmer seines Käfigs umgaben ihn, zerfallen durch die Macht eines Unschuldigen. Zeichen des Bannes, nur nutzlose Überbleibsel einer einstigen Sicherheit.“ Sie stieß die Puppe aus dem Feuer und ließ langsam Sand aus ihrer Hand auf die glühenden Baumwollfäden rieseln. „Ein Körper geformt für den Kampf, mit der Beständigkeit für eine Ewigkeit. Seit diesem Mond frisst es und gräbt es seinen Weg durch die Welten. Jedes Beben, welches ihr vernehmt, jedes Ausbrechen des Feuers der Erde, sind sein Werk.“

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