Der Fahrgast, das bin ich sowie viele andere auch. Ich fahre Bus. Nicht, weil ich wie
andere ein Ziel erreichen möchte, sondern das Busfahren selbst ist mein Ziel.
Dabei bin ich nicht der Fahrer, der den Bus steuert, sondern lediglich ein Gast auf Zeit und
am nächsten Tag erneut und erneut, wieder und wieder.
Mein Name ist Paul. Ich bin, wie die Tochter der Nachbarin mich nennt, ein älterer Herr.
Nun gut, als Herr würde ich mich nicht unbedingt bezeichnen, aber scheinbar ist jeder
Mensch ab einem gewissen Alter ein Herr oder eine Dame. Dieses Alter habe ich erreicht,
auch wenn ich mich diesem nicht immer entsprechend fühle, so muss ich doch feststellen,
dass ein gewisses Alter gewisse Gegebenheiten mit sich bringt. Müde Knochen, ein
langsamer Gang, weil es nicht mehr schneller geht und eine Erschöpfung, die mich
manchmal derartig stark im Griff hat, dass ich mich kaum befreien kann.
Einst, vor langer Zeit, war ich ein Fabrikarbeiter in einem Unternehmen, das heute kaum
noch jemand kennen wird, der nicht schon die 50 Jahre überschritten hat. Es war ein
kleines Unternehmen, doch der Lohn war gut. Ausreichend, um ein Leben zu finanzieren.
Meiner Meinung nach auch ausreichend, um drei Leben zu finanzieren. Das glaubte ich
damals zumindest, bis zu dem Moment, als meine Frau mir eröffnete, dass sie mich
verlassen wolle und unseren gemeinsamen Sohn, Felix, mit sich nehme. Da wurde mir
klar, dass mein Lohn, der in meinen Augen für unser Leben völlig ausreichend war, nicht
ihren Ansprüchen genügte und so ließ ich sie ziehen. Manchmal fragte ich mich im
Nachhinein, ob ich um unsere Liebe hätte kämpfen sollen und beantwortete mir im
nächsten Moment meine Frage selbst.
Wofür kämpfen, wenn es um materielle Ansprüche geht?
Und damit verschwinden diese Gedanken wieder in den dunklen, verstaubten Ecken
meines Geistes.
Schade ist es um meinen Sohn. Er war damals elf Jahre alt. Anfangs sah ich ihn noch. Wir
gingen in den Zoo, besuchten den angrenzenden Park, redeten viel. Er erzählte mir alles,
alles, was ich wissen wollte und vieles, was ich lieber nicht gehört hätte. Ich ließ ihn
immer, unterbrach ihn nie, wollte dieses kostbare Vertrauen, das er mir entgegenbrachte
nie zurückweisen, nicht mal dadurch, dass ich ihn unterbreche.
Doch über die Jahre wurde es immer weniger. Heute habe ich seit über 30 Jahren mit
meinem Sohn nicht mehr gesprochen. Er ging für ein Jahr nach Amerika und lernte dort
seine jetzige Frau kennen. Er blieb. Hat drei Kinder, von denen ich kein einziges
kennenlernte. Anfangs telefonierten wir noch, doch auch das verlief im Sande.
Es macht mich traurig, dass wir keinen Kontakt miteinander haben und in dem Sinne
macht mich die Trennung zu seiner Mutter auch traurig.
Als ich noch gearbeitet habe, tagein tagaus, jeden Morgen früh aufgestanden bin und der
Sonne zugesehen habe wie sie mit dem Mond am Himmel den Platz tauscht, da hatte ich
noch Erfüllung in meinem Leben. Ich verließ morgens das Haus und kam abends zurück,
müde und in freudiger Erwartung auf meine Wohnung. Ich freute mich auf meine Küche, in
der ich mir wohl schmeckende Abendessen zubereitete, genauso wie ich mich danach auf
mein Wohnzimmer freute, um dort bei den Klängen von Mozart oder Bach meine Beine
hochzulegen und zu entspannen, und am Ende des Tages freute ich mich auf mein Bett,
auf meinen wohlverdienten Schlaf und meine Träume, die mich manchmal in andere
Leben oder Welten entführten. Auch da war ich ein Gast auf Zeit und meist wurde ich
herzlichst begrüßt.
Die Nacht endete und ich ging erneut zu Arbeit. Verbrachte meinen Tag mit meinen
Tätigkeiten, mit meinen Kollegen und genoss die Zeit, wenn wir in den Pausen
zusammensaßen und miteinander sprachen, lachten. Sie waren wie eine Familie für mich
und ich habe mit ihnen viel geteilt, Glück sowie auch Sorge.
Doch die Arbeit war hart, eintönig. Sie machte die Tage manchmal ganz schön grau, vor
allem dann, wenn mein Gemüt eh schon gedrückt war. Die Gespräche mit meinen
Kollegen fungierten da fast schon wie Sonnenstrahlen, die eine dunkle Wolkendecke
durchbrechen und ich sagte mir damals, dachte damals, dass die Rente ein Grund zur
Freude sei. Ich müsste nicht mehr schuften und würde aber in den Pausen meiner
Kollegen sie besuchen gehen und mit ihnen, wie sonst auch, reden und lachen.
Das dachte ich, doch das Schicksal hatte andere Pläne, als ich in Rente ging, schloss kurz
danach die Fabrik und meine Kollegen verstreuten sich wie Asche im Wind.
Anfangs tat ich all das, wonach mir war. Ich schlief lange, hörte laut Musik, während
andere arbeiteten. Aß worauf ich Lust hatte, ging an Orte, die ich sehen wollte, wie zum
Beispiel den Park, in dem ich vor vielen Jahrzehnten mit Felix spazieren ging. Manchmal
sah ich Abbilder des elfjährigen Jungen, der über die Gehwege sprintete oder die Rutsche
hinaufkletterte. Ich sah ganz deutlich sein Lachen vor mir, manchmal sehe ich es im
Traum. Das sind die Träume, die mich aufwachen lassen und am Schlafen hindern. Die
Träume, die sich wie Steine in meinem Magen anfühlen und dafür sorgen, dass sich meine
Brust schmerzhaft verengt, so als bekäme ich keine Luft, obwohl ich atmen kann.
Die Tage vergingen, die Wochen vergingen und auch die Monate. Meine anfängliche
Freude nahm ab. All das was ich in der Stille meiner Küche kochte, schmeckte mir nicht
mehr und auch Mozart oder Bach konnten diese Stille nicht füllen. Ich saß da, tagein
tagaus und überlegte wonach mir war, nur um festzustellen, dass mir der Sinn nach gar
nichts stand.
Ich hatte mir diesen Lebensabschnitt, als junger Mann anders vorgestellt. Damals, als
Felix nicht mal ein Jahr alt war und meine Frau und ich auf unserem Balkon das Streicheln
der Novembersonne genossen, da dachte ich über diesen Abschnitt nach. Ich sah sie und
mich, alt und grau, sowie ich es jetzt bin, eingewickelt in eine Decke, während ich ihr
vorlese und wir gemeinsam Tee trinken. Mein Vorlesen wird unterbrochen durch das
Schrillen der Türklingel. Ich erhebe mich, öffne die Tür und vor mir steht Felix mit seiner
Familie. Wir kochen zusammen, Kinderlachen erfüllt die Wohnung und wir essen
gemeinsam. Erzählen dabei von unseren Erlebnissen. Das war ein schönes Bild und wenn
ich heute an dieses Bild denke, empfinde das Gleiche wie wenn ich von Felix
Kinderlachen träume. Es tut weh. Etwas schönes ist schmerzhaft geworden und
deswegen verbanne ich es in die dunklen Ecken meines Geistes.
Eines Tages begann ich mit dem Busfahren. Ich bin ein Busfahrer, ohne den Bus selber zu
fahren. Ich bin ein Gast auf Zeit. Ich steige ein, fahre bis zur Endstation, steige aus und
fahre wieder zurück. Dies beschäftigt mich. Ich sehe die Menschen. Manchmal andere,
aber meistens erkenne ich bekannte Gesichter. Ich fahre immer morgens und komme
manchmal erst abends heim, je nachdem, ob ich mich dazu entscheide noch mit einem
anderen Bus zu fahren, doch das Schema ist immer gleich. Steige ich ein, fahre ich bis
zum Ende. Wieder und wieder.
Dadurch sehe ich soviel, das ich normalerweise nicht sehen würde. Ich habe meinen Blick
geschärft, meine Fantasie angeregt und wenn ich die Menschen betrachte, so kann ich
ihre Geschichten sehen und plötzlich spüre ich, dass ich nicht allein auf dieser Welt bin.
Da ist eine Mutter mit ihrem Kind, einem Mädchen im Alter von vielleicht fünf. Sie, also die
Mutter, redet immer ganz lieb mit ihrer Tochter. Erklärt ihr, was sie sieht und was das ist.
Manchmal sehe ich sie im Bus kuscheln, wenn sie das Glück haben einen Sitzplatz zu
ergattern und dann spüre ich die Wärme, die ich einst bei meiner Mutter spürte und spüre
auch die Wärme, die durch das Lachen eines Kindes entsteht. Auch, wenn ich kein Teil
dieses Bildes bin, so fühle ich Dinge, die mich an andere Zeiten erinnern und in der
Gesellschaft von Menschen, auch wenn es fremde sind, lösen solche Erinnerungen Glück
in mir aus und führen meinen Geist auf eine Zeitreise.
Und so begegnen mir im Bus viele Menschen, deren Geschichte ich kennenlerne und
durch die ich an meine eigene erinnert werde, in einem Raum, in dem ich mich erinnern
kann und will. So freue ich mich auf jeden weiteren Tag und auf jedes neue Gesicht, das
ich ausmache, denn dieses ist auch immer eine neue Geschichte, die ein altes Kapitel
meiner Geschichte aufschlägt.
