Der goldene Schleier

Unruhig rutsche ich auf der Bettdecke umher, darauf wartend, dass es endlich beginnt.
Jeden Abend war es der gleiche Ablauf. Es war ein Ritual, das seit Jahren gepflegt wurde.
Jeden Abend erwartete ich meinen Großvater, der kaum noch laufen konnte, auch nicht
mehr richtig sehen konnte, doch Reden, das konnte er noch immer gut und ich liebte es,
wenn er mich mit seinen Erzählungen in fantastische Träume führte.
Ein Knarren, der Blick zur Tür und da steht er in gebeugter Haltung, lächelt mich an,
wissend, dass ich nur noch nicht schlafe, weil ich auf ihn und seine Geschichten warte.
Langsam geht er auf mein Bett zu, zieht sein linkes Bein nach und setzt sich stöhnend auf
die Bettkante. Den Blick auf mein Gesicht gerichtet, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob
er es überhaupt noch richtig wahrnehmen kann. Vielleicht nur noch die Kontur, vielleicht
weiß er gar nicht wie ich aussehe, habe mich sehr über die Jahre verändert.
„Siehst du manchmal aus dem Fenster? Dann, wenn die Welt sich in der Dunkelheit vor
unseren Augen versteckt?“
Die Frage überrascht mich.
„Sicherlich“, antworte ich, ohne zu wissen, ob es wirklich so sicher ist.
„Tust du nicht. Du hast den Blick für die Welt verloren, in der du lebst. Gräme dich nicht.
Das passiert, wenn man älter wird und lässt sich ganz einfach nachholen.“
Er dreht seinen Oberkörper, verzieht das Gesicht und ich weiß, er hat Schmerzen,
dennoch richtet er seinen Blick auf das geöffnete Fenster.
Eine kühle Brise weht genau in dem Moment herein, als wolle sie seine Worte
unterstützen.
Auch ich blicke hinaus und sehe die stille Dunkelheit, die sich jede Nacht übers Land legt.
„Siehst du es?“, fragt Großvater heiser und ein Lächeln bildet sich auf seinen Zügen.
Nein, ich sehe nicht, rein gar nichts. Doch das sage ich ihm nicht.
„Was siehst du, Großvater?“, frage ich stattdessen.
„Du kannst es nicht sehen, weil du nicht offen bist“, stellt er wissend fest und dreht sich
wieder mir zu, „Lass mich dir eine Geschichte erzählen, dann wirst du wissen was ich
sehe.“
Er holt tief Luft, setzt sich aufrecht hin und beginnt.
„Einst vor langer Zeit war dieses Land ein Königreich, in dem es den Menschen an nichts
mangelte, weder an Hunger noch an Armut. Dafür Sorge trug Alexander, ein junger Mann
von zarten 20 Jahren. Er war der König des Landes, rechtmäßig dazu geboren. Doch
Alexander wurde weder dieser Titel noch das Land geschenkt. Am Sterbebett seines
Vaters bildete sich das feine Band einer Verschwörung, unentdeckt vor den Augen des
alten Königs, der bereits zu nahe dem Tod war, als dass er sich noch aus dessen Griffen
hätte lösen können.
Alexander musste fliehen, bevor dieses feine Band zu einem dicken Seil wird, das ihm im
Schlaf um den Hals gelegt wird. Er floh, ließ Land und Leute zurück, aber nicht von Dauer.
Denn…“
„Großvater, wo ist die Spannung? Ich höre deine Worte, höre von den Geschehnissen,
doch ich fühle mich, als säße ich bei meinen Lehrern“, unterbreche ich ihn.
„Geduld, mein junger Freund, um die Geschichte zu verstehen, bedarf es einer
Grundlage“, antwortet er mit einem Lächeln in der Stimme.
Ich seufze, lehne mich zurück und schweige. Das Schweigen ist das Nicken, das er nicht
mehr sehen kann.
Er setzt seine Erzählungen fort.
„Alexander ließ sein Heim nicht lange zurück. Er reiste durch das Land seines Vaters, das
bald ihm gehören sollte. Das Land hatte sich verändert seit der Krankheit des Königs.
Wurde trostloser, ärmlicher. Es war fast so, als sei der König bereits tot. Und so waren
viele bereit Alexander zu folgen, sodass er mit einer riesigen Armee zum Schloss
zurückkehrte und seinen rechtmäßigen Platz zurückforderte.“
Großvater legt eine Sprechpause ein.
„Da du das Ende bereits vorweggenommen hast, er hat es geschafft“, stelle ich nun fest.
Er nickt und blickt auf seine Hände.
„Ja, er schaffte es und er führte das Land lange Zeit so, wie es einst sein Vater tat. Die
Menschen waren glücklich und jeder gab sich dem Bild von Sicherheit hin. Auch er, er
heiratete, bekam einen Sohn. Alles schien gut zu sein.“
„Ich entnehme deinem Ton, dass dem nicht so war?“
„Nein, das war es nicht“, antwortet er nach einiger Zeit des Schweigens und blickt auf, „Es
war, als wiederhole sich die Geschichte.“
Verständnislos sehe ich ihn an.
„Auch Alexander bemerkte nicht wie sich in seiner direkten Nähe eine dunkle Wolke
zusammenbraute. Eines Nachts wurden die Tore von innen geöffnet und dem Bösen
wurde Einlass gewährt. Es strömte wie eine Flutwelle herein. Riss alles mit sich,
verschlang es. Alexander verhalf seiner Frau und dem gemeinsamen Kind zur Flucht, ehe
er sich dem Feind stellte.“
„Warum ging er nicht mit seiner Frau?“, unterbreche ich seine Erzählungen erneut und
kann mein Unverständnis kaum verbergen, „So hatte er es doch schon mal getan.“
„Ein König lässt sein Land und die Menschen, die für ihn sterben würden, nicht zurück. Er
geht mit ihnen siegreich aus einem Kampf hervor oder geht mit ihnen zusammen unter.“
ich zucke zusammen, so hatte ich meinen Großvater noch nie reden hören. Mit soviel
Nachdruck, als sei das, was er sagt, Gesetz.
„In Ordnung“, erwidere ich langsam, während ich nervös meine Hände knete.
„Alexander stellte sich dem Kampf. Schenkte seinen Männern wieder Mut, gab ihnen ihren
Kampfgeist zurück, den sie zuvor verloren und gemeinsam schlugen sie den Feind nieder.
Sie gewannen eine aussichtslose Schlacht, bei der sie zahlenmäßig unterlegen waren.
Denn sie hatten einen Vorteil, sie kämpften für die gerechte Sache. Für ihre Familien und
den Frieden. Das gab ihnen Kraft, unbändige Kraft, denn sie fürchteten den Tod nicht
mehr. All diese Männer, sie kämpften Seite an Seite mit ihrem König.“
Die Worte meines Großvater verklingen in der Stille der Nacht.
„Hat er überlebt?“, frage ich vorsichtig und setze mich auf.
Großvater blickt in die Ferne. Es wirkt fast so, als sei nur noch sein Körper hier bei mir.
Ich strecke die Hand aus, berühre ihn vorsichtig an der Schulter.
Er blickt ruckartig auf, fokussiert mein Gesicht, ehe er mit Traurigkeit in der Stimme
antwortet.
„Nein, er überlebte nicht. Aber er gab alles, damit sein Reich überlebt und so geschah
etwas. Etwas göttliches, etwas magisches. Als Alexander seinen letzten Atemzug
aushauchte, soll dieser golden gewesen sein. Sein Körper, der zuvor wie wild kämpfte, soll
in der Ruhe des Todes sich aufgelöst haben und all jenes, was ihn zu dem Menschen
machte, der er war, wurde zu goldenen Staub, der sich gen Himmel erhob. Getragen vom
Wind verteilte er sich über das ganze Land. Mut, Stärke, Loyalität, Solidarität und Güte,
das war Alexander und auch, wenn er nicht mehr war, so waren es diese Teile von ihm.
Seit jeher schützen sie uns. Nur die, die dem Land friedlich gesonnen sind, sind der Lage
es zu betreten. Allen anderen verwehrt Alexander den Zutritt, selbst heute noch.“
„Glaubst du daran?“, frage ich ihn sanft.
„Du nicht? Seit dieser Zeit ist unserem Land nichts schlechtes mehr widerfahren. An nichts
mangelt es uns“, antwortet er und erhebt sich stöhnend. Er schlurft auf das geöffnete
Fenster zu, findet Halt am Rahmen und blickt hinaus.
„Weißt du, seitdem ich schlechter sehe, kann ich besser sehen.“
„Ich verstehe nicht…“, beginne ich, doch dieses mal ist er derjenige, der mich unterbricht.
„Komm her.“
Zwei Worte, die so sanft gesprochen sind, dass ich ohne eine weitere Frage aufstehe und
mich neben meinen Großvater stelle.
Gemeinsam blicken wir in den dunklen wolkenverhangenen Himmel. Er mit einem Lächeln
im Gesicht und ich mit einer stummen Frage.
„Jeder sollte seine Familiengeschichte kennen, Samuel und nun blick in den Himmel und
sag mir was du siehst.“
Ich folge seiner Aufforderung, ohne mir meine Überraschung anmerken zu lassen.
Ich war ein Nachfahre des sagenumwobenen Alexanders? Ich bezweifele dies stark, sehr
stark, doch dies spreche ich nicht aus. Ich kenne meine Familiengeschichte, hatte sie von
meiner Mutter zur Genüge gehört. Ich war sicherlich keiner, durch dessen Adern
königliches Blut floss, doch auch das sage ich nicht. Stattdessen blicke ich in den Himmel
und sehe nichts außer dunkle Wolken, die den Mond verbergen. Nur ganz schwach
schimmert sein weißes Licht mir entgegen.
„Es ist wunderschön“, hauche ich und das Lächeln auf dem Gesicht meines Großvaters
wird breiter.
„Das ist es“, stimmt er mir zu, „Das ist es wirklich.“
Ich wende mich vom Fenster ab, blicke meinen Großvater an und auch ich muss lächeln.
Genieße es, wenn sein Gesicht nicht vom Schmerz verzerrt wird, sondern er friedlich und
glücklich aussieht. Es gibt mir Hoffnung, dass ich noch nicht auf Wiedersehen sagen
muss.
„Wie findest du die Idee, wenn ich uns heiße Milch mit Honig mache?“, frage ich und
erhalte von meinem Großvater ein Nicken. Ihn nochmal kurz betrachtend, verlasse ich
mein Schlafzimmer.
Noch immer am Fensterrahmen gelehnt, blickt der alte Mann dem Himmel entgegen.
Eine wohlige Wärme hüllt seinen alten, gebrechlichen Körper wie eine Decke ein.
Er hat keine Angst vor den Händen des Todes, hat keine Angst sein Heim zurückzulassen.
Jedes Mal, wenn er in den Himmel blickt, fühlt er sich sicher. Immer dann, wenn er den
goldenen Schleier betrachtet. Immer dann, wenn er zu ihm hinaufblickt. Auch, wenn er ihn
nie kennenlernte, so spürt er mit jedem Blick die bedingungslose Liebe.
Die Liebe, die nur Eltern zu ihren Kindern haben können und jeden Abend dankt er ihm,
dass er diese Liebe spüren darf, selbst in dem Alter von 91 Jahren.

Kommentar posten